Nachts im Hotel

Veröffentlicht am 31. Mai 2024 um 19:36
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Während meiner Schulzeit arbeitete ich nebenbei als Nachtportier in einem der renommiertesten Hotels der Stadt. Das Haus hatte einen zweifelhaften Ruf: Es war sowohl berühmt als auch berüchtigt. Die Leute rissen sich nicht gerade um einen Job in diesem Hotel, sodass ich zu sehr guten Konditionen dort anfangen konnte.

 

Es war allgemein bekannt, dass die Angestellten dort nicht lange blieben. Das Management hatte überhöhte Ansprüche, die ein gutes Arbeitsklima nahezu unmöglich machten.

 

Doch das Geld war verlockend, und so begann ich kurz vor Weihnachten dort zu arbeiten.

 

Das Hotel, erbaut im Jahr 1921, gehörte einem der Stadtväter, den ich hier Herr P. nennen werde. Zwei Straßen und eine kleine Parkanlage in unserer Stadt tragen seinen Namen.

 

Die Geschichte dieses Hotels war jedem bekannt, doch niemand sprach offen darüber. Herr P. galt als skrupelloser Geschäftsmann und Politiker.

Er hatte durch den Abbau von Schiefer in den umliegenden Bergstollen ein großes Vermögen angehäuft.

Das Wohl der Minenarbeiter war ihm egal, sodass während der Arbeiten zahlreiche Unfälle passierten und es auch zu Todesfällen kam.

 

Als Reichtum allein ihn nicht mehr befriedigen konnte, entschloss er sich, ein Grand Hotel im Geiste des berühmten Grand Hotel Excelsior zu errichten. Das Projekt war ein Erfolg.

 

Dank des benachbarten Theaters und der guten Verkehrsanbindung zog das Hotel bald viele Gäste an, die sowohl Wohlstand als auch Ansehen und Glamour in unsere kleine Stadt brachten.

Geld zog weiteres Geld an, und bald folgte auch überregionale Prominenz aus Kunst und Theater. Auch die gesellschaftliche Elite fand sich unter dem Dach des Herrn P. ein.

 

Nach einigen Nächten im Hotel war ich mit dem traurigen Schicksal des Hauses vertraut. Doch ich maß dem keine allzu große Bedeutung bei.

Was mir am meisten Angst machte, waren die betrunkenen Gäste, die nach ihren nächtlichen Abenteuern ins Hotel zurückkehrten. Ansonsten passierten keine außergewöhnlichen Ereignisse.

 

Doch in einer dieser Nächte geschah etwas, das ich mir bis heute nicht erklären kann.

Es war gegen 3 Uhr nachts, als ich meinen zweiten Rundgang durch das Hotel beendete.

 

Um wach zu bleiben, spielte ich auf meiner mobilen Spielekonsole. Das Lesen hatte ich aufgegeben, da es oft dazu führte, dass mir die Augen zufielen. Das Spielen hingegen hielt mich geistig und körperlich wach.

 

Vor meinem Rezeptionstresen stand ein wunderschöner alter Vitrinenschrank, der noch aus der Zeit der ersten Eröffnung stammte. Er enthielt immer die neuesten Informationen über Ereignisse in der Umgebung oder kommende Veranstaltungen.

 

Plötzlich fand ich mich direkt vor einer der gerundeten Ecken der Vitrine wieder, meine Hand lag auf dem Rahmen.

 

Ich hatte gerade noch in meinem Sessel hinter dem Tresen gesessen und mein Jump 'n' Run gespielt. Der Endgegner musste doch irgendwann besiegt sein.

 

Doch im nächsten Moment stand ich vor der Vitrine.

 

Meine Handfläche lag auf dem Rahmen, und mein Gesicht war von Tränen überströmt.

 

Ich weiß nicht, wie lange ich dort gestanden habe. Mir war plötzlich ziemlich kalt, und ich zitterte vor Angst.

 

Doch etwas in mir sagte: "Schau auf das Holz."

 

Ich tat es und entdeckte eine Art Gravur. Jemand hatte wohl vor langer Zeit etwas in das Mahagoniholz geritzt.

 

Als meine Fingerkuppen die Vertiefungen der Gravur nachzeichneten, liefen mir weitere Tränen über das Gesicht, die ich nicht bewusst beeinflusst hatte.

 

Das Geschriebene konnte ich nicht entziffern, da nur mein Rezeptionstresenbereich beleuchtet war. Also lief ich zu meinem Platz und holte meine Taschenlampe.

 

Was ich dann sah, waren unverkennbare Worte, doch einige waren durch die Renovierung der Einrichtung und das wiederholte Schleifen und Lackieren nicht mehr sichtbar.

 

Mir fiel es jedoch nicht schwer, die durch die Zeit entstandenen Lücken logisch zu füllen.

 

Der Satz lautete:

 

"vide et pati aeternum".

 

Was bedeutete das und was war geschehen? Wie hing das alles mit mir zusammen?

Es war mir ein Rätsel. Die erste Frage konnte ich mit Hilfe der bekannten Suchmaschine beantworten.

Die Übersetzung aus dem Lateinischen lautete: "siehe und leide ewig".

Die zweite Frage war schon schwieriger und erforderte detektivisches Geschick.

 

Diese Drohung wird wohl kein Freund des Hauses verfasst haben, und den Abnutzungsspuren nach zu urteilen, entstand die Gravur in der Anfangszeit des Hotels.

Mir kam in den Sinn, in den Zeitungsarchiven zu suchen, nachdem meine Onlinerecherche fruchtlos geblieben war.

Tatsächlich fand ich etwas scheinbar Unbedeutendes. Da war ein Artikel über einen Unfall mit Todesfolge. 

 

Der Inhalt lautete wie folgt:

Eine junge Frau ist im November 1932 von der oberen Dachbalustrade gestürzt und gestorben.

 

Man hat es als einen tragischen, selbstverschuldeten Unfall abgetan, und es war nach nur einem Mal nicht wieder in der örtlichen Zeitung erwähnt worden.

Ich musste also andere Quellen ausfindig machen, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

 

Von Mal zu Mal ging ich zum Schriftzug und berührte noch einmal die finstere Drohung.

Jedes Mal hatte ich das Gefühl, dass zwischen mir und dem Verfasser eine unsichtbare Verbindung besteht. Mehr noch, dass er meine Hartnäckigkeit billigte.

 

Also sprach ich bei einer meiner Nachtwachen eine Kollegin an, die schon sehr lange als Küchenhilfe dort arbeitet und auch sonst über alles und jeden Bescheid weiß.

Sie erzählte mir, sie wisse von diesem armen Mädchen, das abgestürzt sei. Und es sei bekannt, dass die junge Frau absichtlich aus dem Fenster gesprungen sei.

Es gebe auch Gerüchte darüber, dass eine Liebesgeschichte eine Rolle spielte.

Tatsächlich lag nach diesem Ereignis ein Fluch auf dem Haus. Die Gäste blieben aus, das Hotel verlor an Ansehen in den gehobenen Kreisen.

Die Clubs haben sich auch andere Räumlichkeiten gesucht.

Bis schließlich 1939 ein Brand das Haus ziemlich beschädigt hatte.

 

Herr P. verlor sein hohes Ansehen in der Stadt. Als Politiker wurde er auch nicht wiedergewählt. Bis er schließlich das Hotel verkaufen musste und sich anschließend aus dem gesellschaftlichen Leben komplett zurückzog.

 

Ich fragte sie, ob sie mehr über das Mädchen wüsste oder ob es irgendeine Art Erpressung gab, in die Herr P. verwickelt war.

Doch da hörte ihr Insiderwissen auf.

Selbstverständlich konnte ich ihr mein Erlebnis nicht schildern, um nicht als verrückt zu gelten.

 

Folglich stand ich wieder fast am Anfang.

 

Eines Nachts kam mir bei einem meiner Rundgänge eine Idee. Ich ging in das ehemalige Geschäftszimmer, das nun als Saal für Empfänge diente, und begann, mich dort etwas genauer umzuschauen.

Nachts war ich mir sicher, ungestört zu sein, und mir war auch bekannt, dass die Räumlichkeiten durch keine Videokameras überwacht wurden.

 

Da verfiel ich wieder in den selben Trancezustand wie das erste Mal und lief zu einer Art Mauervorsprung, der in einem Sims endete.

Unten, ein paar Zentimeter über der Sockelleiste, klopfte ich und entdeckte einen kleinen Hohlraum.

Mit meinem Taschenmesser schnitt ich eine Öffnung durch viele Schichten der Tapete und leuchtete mit meinem Handy hinein.

Es befanden sich Stapel von Briefen darin. Nach der ersten Durchsicht begann sich die Geschichte mir zu offenbaren.

Es ging in diesem Briefwechsel um eine Beschuldigung und Erpressung.

Die Eltern der jungen Frau haben offenbar nie an ein Verschulden ihrer Tochter geglaubt und forderten P. auf, sich dazu zu bekennen und sich öffentlich zu entschuldigen.

Natürlich tat er nichts davon und drohte seinerseits den Eltern der jungen Frau mit juristischen Schritten.

Der letzte Brief war im Juni 1939 gezeichnet und enthielt als Schlussformel den Satz "vide et pati aeternum".

 

Ich war zu verblüfft, um das Ganze, was ich allein erfahren habe, für mich zu behalten.

Also entschied ich mich, die Geschichte meiner Mutter zu erzählen.

Sie hörte interessiert zu und fragte schlussendlich nach dem Nachnamen der Eltern.

Ich sagte, sie hießen Groenewald, und da begann sie zu weinen.

Sie sagte, dass ihre Großmutter eine Zwillingsschwester hatte, die Greta Groenewald hieß und sich aus einer unerfüllten Liebe vom Dach eines Hauses stürzte.

Doch ihre Eltern konnten das ihr Leben lang nicht akzeptieren und sind verbittert gestorben.

Dass die Eltern meiner Urgroßtante den Besitzer des Hauses offenbar verflucht hatten, habe ich bis zum heutigen Tage für mich behalten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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