Die Taschenlampe

Veröffentlicht am 29. Mai 2024 um 11:53
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Es war schon wieder kurz vor Allerheiligen. Das bedeutete, es war wieder Zeit für unsere jährliche traditionelle Nachtwanderung im benachbarten Wäldchen.

Meine Familie wohnt schon seit Generationen in diesem Ort, und das Bauernhaus innerhalb des Dreiseitenhofs hat schon meinem Urgroßvater gehört.

Da wir in einem kleinen, abgelegenen Örtchen leben, bleibt man unter sich. Die Menschen glauben hier noch an Flüche und schlechte Omen.

So trug es sich zu, dass meine Urgroßmutter nach langem Warten und Beten endlich schwanger wurde. Sie richtete ihre Gebete an die heiligen Heerscharen und bot an, im Falle einer Schwangerschaft alle Heiligen und Sünder durch eine nächtliche Wanderung am 1. November zu ehren. Da sie sich unglaublich fürchtete, im Dunkeln in den Wald zu gehen, erschien ihr dieses Opfer als angemessen.

So entstand die Tradition, die wir nun jeden Herbst fortführen.

Meine Familie bestand aus insgesamt fünf Geschwistern. Die Nachtwanderung war für uns alle fünf ein Ereignis, auf das wir uns, neben dem Weihnachtsfest, unglaublich freuten.

Wir waren zwar ziemlich aufgeregt und aufgekratzt, aber keiner vergaß, sein wichtigstes Utensil einzupacken.

Es gab immer wieder Uneinigkeiten zwischen uns Kindern, wessen Taschenlampe nun die hellste war oder welche coolen Funktionen sie noch hatte.

Melissas Taschenlampe konnte lichtmorsen. Das war supercool! Meine Lampe hatte einen Farbfilter. Die Lampen der kleinsten Brüder, Noah und Lucas, waren nichts Besonderes, weil sie ein Geschenk unserer Oma waren, und es ist allgemein bekannt, dass Omas kein Gespür für coole Taschenlampen haben.

Aber die beste und schönste Taschenlampe hatte unser ältester Bruder Mathias. Diese Lampe hatte früher unserem Opa gehört, und der hatte sie auf seinen Schiffsreisen dabei, als er als Kapitän eines Frachtschiffes die Welt durchquert hatte.

Opas Taschenlampe war also von allen die begehrteste, obwohl sie keine besonderen Funktionen hatte und so groß war wie mein Unterarm.

Mathias erzählte die Geschichte, wie er die Lampe von Opa bekam, immer einen Tag vor der Wanderung, und wir lauschten jedes Jahr gebannt, obwohl wir jedes Wort und jede Wendung der Geschichte auswendig kannten. Trotzdem unterbrach ihn keiner von uns, bis er seine Erzählung beendet hatte.

Diese Tradition leitete unser ersehntes Abenteuer ein.

Es soll sich so zugetragen haben, dass Opa gesagt hat, die Lampe sei magisch und dass sie immer sein Besitz bleiben würde. Mathias würde sie lediglich geliehen bekommen. So würde Opa sie an sich nehmen, wenn er sie braucht oder etwas Wichtiges zu erledigen hat.

Ein halbes Jahr nach diesem Gespräch verstarb unser Opa. Doch durch die jährliche Wiederholung vergaßen wir nie, was er gesagt hatte. Jahre später hatte diese Erzählung jedoch etwas Legendäres, und Mathias hat vielleicht auch ein paar Ecken und Kanten abgeschliffen und hier und da etwas ausgeschmückt. Doch der Kern blieb erhalten.

Nie ist etwas Merkwürdiges bezüglich dieser Taschenlampe passiert. Sie wurde von Mathias immer in seinem Vitrinenschrank verwahrt bis zum Tag der Wanderung.

Doch dieses Mal war sie verschwunden. Zuerst gab es Streitereien und Geschrei, weil Mathias uns alle unter Generalverdacht stellte und, wenn wir uns nicht schnell genug duckten, hagelte es schon mal Kopfnüsse. Doch nachdem uns allen klar war, dass keiner sich einen Scherz mit Opas Taschenlampe erlaubte und die erste Wut verflogen war, gingen wir gemeinsam auf die Suche.

Das ganze Haus musste dran glauben. Es wurde auch das Grundstück durchsucht. Kein Anhaltspunkt für den Verbleib.

Irgendwann gaben Noah und Lucas als Erste die Suche auf und gingen resigniert ins Bett. Als Nächste folgte Melissa. Mathias und ich blieben jedoch wach und diskutierten bereits, welche Areale wir schon durchsucht hatten und teilten das Grundstück in eine Suchmatrix ein, um die bereits untersuchten Quadranten auf der Karte abzuhaken.

Unsere militärische Herangehensweise brachte uns jedoch keinen Schritt weiter.

Es wurde schon hell draußen, und die Sonne begann sich auszubreiten. Es half nichts, die Schlacht war verloren. Wir mussten aufgeben.

So seltsam es schien, zu diesem Zeitpunkt war Opas Geschichte wie aus dem Gedächtnis gestrichen. Keiner von uns erinnerte sich noch an die Worte.

Ich ging also schlafen und legte mich in blinder Verzweiflung in Klamotten ins Bett.

Gerade als mir die Augen wie Bleimarkisen zufielen, hörte ich einen deftigen Fluch aus dem Nachbarzimmer. Mathias!

Nach und nach trudelten wir schlaftrunken in seinem Zimmer ein und sahen das Unglaubliche. Mathias machte sich an seiner Matratze zu schaffen.

Was war passiert?

Als sich die Aufregung einigermaßen gelegt hatte, erzählte unser Bruder uns, dass er beim Liegen merkte, dass etwas Hartes ihn in die Wirbelsäule drückte.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sich kein Gegenstand auf der Matratze befand, kam ihm die Idee, innerhalb der Matratze nachzuschauen. In diesem Augenblick erschienen wir alle in seinem Zimmer.

Wir alle fühlten den harten Gegenstand, und nach einer Weile kam jemand auf die Idee, ein Messer zu holen, um nachzuschauen, was sich dort schlussendlich verbirgt.

So geschah es dann. Wir öffneten die Stelle, an der wir den Übeltäter vermuteten, und erstarrten.

Was darin lag, war Opas Taschenlampe.

Wir alle sahen gemeinsam, dass die Matratze vorher unbeschädigt war und keine Risse oder Ähnliches aufwies. Wie war sie also dahin gekommen?

Ein paar Tage vergingen. Irgendwann kam eine Nachbarin zu meiner Mutter und fragte, ob wir mitbekommen hätten, dass neulich ein Bär im Waldstück hinter unserem Bauernhaus gesehen wurde. Aber wir sollten keine Angst haben, es seien schon Jäger benachrichtigt worden. Wir sollten nur nicht im Dunkeln vor die Tür gehen.

Später kam heraus, dass der Bär sich genau zum Zeitpunkt unserer Wanderung in dem Wäldchen aufgehalten hat. Man kann sich nicht ausmalen, was alles hätte passieren können.

Nach diesem Ereignis ist die Taschenlampe nie wieder verschwunden gewesen

 

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